Poesie und Probenklassen

Interview mit Alexander Riemenschneider und Simone Albrecht aus dem Magazin „Theater und Schule ­4“
Über Literaturklassiker, Gegenwartsgeschichten, Erwartungen und Erfahrungen im Zusammenspiel von Theater und Schule sprachen Alexander Riemenschneider, Intendant und Regisseur, und Simone Albrecht, Deutschlehrerin am Otto-Na­gel­-Gymnasium in Marzahn­-Hellersdorf, vor den Sommerferien.
Das Gespräch führte Stefanie Eue aus der Kommunikation.
STEFANIE „Muss ich das gelesen haben?“, fragt Autorin Teresa Reichl in den Sozialen Medien und trifft damit den Nerv von Jugendlichen, die enga­ giert mit ihr über Klassiker und neue Bücher disku­ tieren. Auch uns im Theater beschäftigt, was für junge Menschen interessant ist und welche Stoffe die postmigrantische Gegenwart spiegeln. Gleich­ zeitig kennen wir die Lektüreempfehlungen für den Unterricht. Gegenwartsdramatik scheint keine Rolle zu spielen.

SIMONE Das stimmt, in den Empfehlungen für Epik und Lyrik gibt es Zeitgenössisches, für die Dramatik nicht. Da gibt es anscheinend eine Scheu, es werden viele Klassiker empfohlen. Das ist schade, denn oft erreichen wir die Schüler*innen mit diesen Stoffen nicht so gut. Ausnahmen gibt es natürlich: Zuletzt habe ich mit einer 9. Klasse „Die Räuber“ von Schiller gelesen: zwei Brüder, die sich streiten – das funktionierte gut. Auch „Maria Stuart“: zwei Frauen im „Zickenkrieg“ – super. Doch trotzdem: Moderne Stücke im Unterricht wären eine Chance, auch für das Schultheater.

ALEXANDER Wir wollen jungen Menschen Theater zeigen, das von ihrer Welt erzählt. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass kanonische Stoffe im Spielplan nicht mehr vorkommen sollen. Doch Klas­ siker beinhalten zum Teil Narrative und Rollenbilder, die wir schwierig finden und daher suchen wir ver­ mehrt nach Texten aus der Gegenwart. Und wenn es dazu noch die Erwartungshaltung gibt, Stücke „konservativ“ auf die Bühne zu bringen – also so wie sie scheinbar „früher” gespielt wurden –, spüre ich einen Widerstand in mir. Im Theater muss sich jeder Text, ob 2 oder 2.000 Jahre alt, zur Gegenwart verhalten.

SIMONE Ja, das empfinde ich ähnlich. Ich würde diese Forderungen, die Schulen scheinbar oft an Theater herantragen, auch eher wegdrängen. Gerade erst habe ich für den Schul­Blog über ein Stück von Jon Fosse im Deutschen Theater geschrieben. Ein ungewöhnliches Arrangement – wir auf der Bühne und die Schauspieler*innen im Zuschauerraum – und eine tolle Erfahrung, obwohl mich der Text nicht abgeholt hat. Aber ich sage immer, geht in unbekannte Stücke und lasst euch überraschen. Selbst wenn wir alle wissen, wie schwer das zu organisieren ist mit ganzen Klassen, gerade in der Oberstufe.
STEFANIE Wir erleben auch, dass es vom persönlichen Engagement der Lehrer*innen abhängt, ob Schüler*innen ins Theater kommen. Du gehst regel­mäßig mit Klassen ins Theater und begleitest uns als Zuschauerin schon viele Jahre. Zuletzt warst du mit einer 8. Klasse als Probenklasse bei der Inszenierung „Krummer Hund“.

SIMONE Ja, das passte thematisch gut in den Unter­richt, weil wir gerade „Auerhaus“ von Bov Bjerg gelesen hatten.
ALEXANDER Stimmt, „Krummer Hund“ ist auch eine Coming­-of-­Age-­Geschichte. Erzählt wird vom 15-­jährigen Daniel, von Wut und Freundschaft, von Konflikten mit Eltern und der Suche nach Nähe.

SIMONE Thematisch spricht das Jugendliche in diesem Alter direkt an. Richtig beeindruckt war die Klasse allerdings von deiner künstlerischen Umsetzung, von der Verfremdung über das Chorische, dass der Daniel von fünf Schauspieler*innen ver­körpert wurde. Man sollte Jugendliche eben nicht unterschätzen, sie wollen es nicht zu leicht gemacht bekommen.

STEFANIE Wie war es, als Probenklasse hinter die Kulissen zu schauen?

SIMONE Wir waren beim Erarbeiten der Szenen dabei, auf der Probe war noch nicht alles fertig und per­fekt. So nah dran sein, sich selbst auf der Bühne ausprobieren, das fand die Klasse toll. Doch ein Probenbesuch ist kurz; ich würde mir einen ganzen Workshop­-Tag wünschen. Es ist schlicht anders, wenn Theater von den Macher*innen selbst und im Bühnenraum vermittelt wird. Das bleibt im Gedächtnis, und so entsteht der Gedanke: Theater ist ein anderer Ort, der macht etwas mit mir.

ALEXANDER Da kann ich gut anknüpfen, denn für uns ist Theater ein Ort der Begegnung und Erfahrung. Ob in Workshops, beim Besuch von Probenklassen oder in den Vorstellungen – immer geht es uns um eine sinnliche, intellektuelle oder körperliche Erfahrung.
STEFANIE Und welche Rolle kann die Literatur und der Kanon darin spielen?

ALEXANDER Naja, wenn du mit Kanon z. B. eine bestimmte Begegnung mit Sprache meinst, kann das auch eine intensive Erfahrung sein. Meine prägendsten Theatererlebnisse als junger Mensch waren die, in denen auf der Bühne ganz anders gesprochen wurde, als ich es aus meinem Alltag gewohnt war, mit einem anderen Rhythmus, einer anderen Dichte, einer eigenen Poesie. Wenn das mit Klassikern gelingt, diese Übersetzung von Literatur in lebendige Theatersprache, ist das toll.

STEFANIE Da denke ich an deine Inszenierung von „Das Kind träumt“, mit der die Parkaue u. a. für den IKARUS-­Theaterpreis nominiert ist.
ALEXANDER Ja, ein Text wie „Das Kind träumt“ ist mir zuvor noch nie begegnet. Wie Hanoch Levin über Flucht und Vertreibung schreibt: distanziert in der Form, hoch artifiziell in einer gebundenen Sprache – und zugleich unheimlich aktuell in den Szenen.

STEFANIE Und obwohl der Autor in Deutschland relativ unbekannt ist, gab es ein großes Interesse der Schulen. Vor allem in Verbindung mit den Schulworkshops, die wir zusammen mit der Initia­tive „Dagesh – Jüdische Kunst im Kontext“ ent­wickelten.
SIMONE Das kann ich mir vorstellen, denn den Stoff kann man gut anbinden. In meiner Klasse haben wir uns in diesem Schuljahr mit dem Nationalsozia­lismus und Holocaust auseinandergesetzt. Aber ebenso, wenn wir über Gegenwart, Krieg und Flucht nachdenken, könnte das Stück ein Anknüpfungs­punkt sein.

STEFANIE Ja, das sehen wir auch so. Für uns ist das eine Geschichte, die ganz aktuelle Themen von Ethik und Gesellschaft verhandelt. Gleichzeitig arbeitet Levin mit den Methoden von Bertolt Brecht, d. h. auch im Deutschunterricht kann damit gut gearbeitet werden. Alexander, in der neuen Spielzeit inszenierst du mit „Was ihr wollt“ von William Shakespeare einen weiteren Stoff der Weltliteratur. Was interessiert dich daran?

ALEXANDER „Was ihr wollt“ spielt mit der Vorstellung von Identität. Was heißt authentisch sein, wie komme ich zu mir selbst? – Das sind Fragen, die nach meiner Empfindung junge Menschen extrem interessieren. Sicher nicht nur in unserer Zeit, aber gerade im Kontext von Sozialen Medien ist die Frage danach, wie ich mein Ich performe, absolut präsent. Und Shakespeare ist da radikal heutig: seine Figuren kommen in der Verwandlung zu sich. Er glaubt daran, dass wir uns alle immer in ver­schiedenen Rollen begegnen. Und das geht bis in die Sprache der einzelnen Figuren hinein.

SIMONE Solche Überlegungen sind für mich interessant und sicher auch für andere Lehrer*innen. Wenn ich weiß, unter welchem Aspekt ihr das Stück inszeniert, kann ich den Theaterbesuch besser an den Unterricht anbinden und in der Vor- und Nachbereitung begleiten. Denn die Schüler*innen müssen wissen, was bezwecke ich damit. Und ich muss wissen, was haben sie verstanden, wie können sie das anwenden.

STEFANIE Theatermacher*innen und Lehrer*innen sollten also möglichst früh über Zugänge zu Stoffen ins Gespräch kommen?
SIMONE Ja, das fände ich toll, wenn wir uns sozusagen schon vor der Theatertür treffen. Als Alexander gerade von „Was ihr wollt“ erzählt hat, war ich gleich hellhörig: die Suche nach dem Ich und was hat Sprache damit zu tun – das sind Themen, die passen z. B. gut ins Semester „Sprache“. Das ist ein Impuls, den ich vorher mit dem Stück nicht assoziiert hatte. Relevant ist für mich im Austausch mit euch Theatermacher*innen dazu: Welche Übungen gibt es, um dem Drama als Gattung gerecht zu werden? Ich gehe mit dem Text um, wir analysieren die Gestaltungsmittel, aber das ist nicht Spielen und Theater.
STEFANIE Du bräuchtest also Kunstvermittlung im Sinne von „Wie funktioniert Theater“?

SIMONE Genau, denn die Übersetzung von Literatur in Theater – dazu fehlen uns im Deutschunterricht die Mittel. Wir unterrichten die Theorie und erklären Konzepte. Was ist das Dramendreieck, was macht eine Tragödie aus? Aber nur weil Schüler*innen mit den Begriffen umgehen können, müssen sie noch nichts von Theater als Kunst verstanden haben.

ALEXANDER Interessant ist ja, wie sich diese Schule des Wissens, wenn ich das so nennen darf, auf den Theaterbesuch auswirkt. Denn natürlich kennen wir z. B. aus Nachgesprächen das Abgleichen von erlerntem Wissen. Und zugleich spüren wir die Atmosphäre im Theatersaal bei den Vorstellungen und wie Schulklassen ganz intuitiv auf die Bühne reagieren.

SIMONE Ja, in der Schule kann es passieren, dass Schüler*innen mit Wissen vollgestopft werden, bevor sie überhaupt einmal ein Theaterstück erlebt haben. Dann werden sie meist nicht für die Kunst aufgeschlossen. Heute ist das zum Glück vielerorts anders: Da gehen bereits jüngere Klassenstufen ins Theater und der Unterricht in der normalen Form wird aufgelöst durch Projektarbeit oder interaktive Formate. Ich beobachte auch eine große Resonanz auf die Kurse Darstellendes Spiel. Man merkt also, ihr seid da, Theater wird geliebt.

Fotos: Dave Großmann