Sich künstlerisch entfalten

Interview mit Sophia Neises und Pauri Röwert aus dem Magazin „Theater und Schule ­2“
Die sehbehinderte Künstlerin und Behindertenrechtsaktivistin Sophia Neises und Pauri Röwert aus dem Team Künstlerische Vermittlung und Partizipation im Gespräch über TUSCH–Theater und Schule, Audiodeskription und inklusives Theater für junges Publikum.
STEFANIE Im Rahmen von „TUSCH–Theater und Schule“ kooperieren wir seit Oktober neu mit der Paul-und-Charlotte-Kniese-Schule, einer inklusiven Gemeinschaftsschule in Berlin-Lichtenberg. Pauri, du begleitest das aus der Künstlerischen Vermittlung heraus. Was sind erste Pläne?

PAURI Die Kooperation ist auf drei Jahre angelegt, und wir wollen Theater und Schule in jeglicher Form miteinander in Kontakt bringen. Unser Fokus ist es, gemeinsam Projekte und Begegnungsformate zu erfinden. So sind neben Theaterworkshops z.B. auch Angebote zur Berufsorientierung geplant, die die Theaterarbeit hinter den Kulissen erfahrbar machen. Gerade waren wir beim Bundesweiten Vorlesetag in der Schule, eine Gruppe von Lehrer*innen wiederum hat schon im November eine Abendvorstellung bei uns besucht.

Grundsätzlich möchten wir für mehr Teilhabe sorgen und den Kniese-Schüler*innen vielfältige Möglichkeiten bieten, sich künstlerisch zu entfalten. Deswegen wollten wir unbedingt mit Sophia als behinderte Künstlerin und Behindertenrechtsaktivistin zusammenarbeiten. Klassischerweise sind es oft nichtbehinderte Menschen, die mit behinderten Kindern arbeiten – wir wollen den Schüler*innen jetzt eine andere Rahmung, eine andere Erfahrung ermöglichen.
SOPHIA Ich selbst wurde in meiner Schulzeit enorm empowert. Ich war in einer Theatergruppe, habe später eine Theater-AG geleitet und wurde in diesem Prozess bereits künstlerisch qualifiziert. Das ist für mich auch eine treibende Kraft in Projekten wie TUSCH: Wie kann ich Handwerkszeug mitgeben und ermutigen? Wie kann ich Schüler*innen in ihrer Kreativität bestärken, ihnen vielleicht die Co-Leitung von Übungen übertragen oder mit ihnen gemeinsam den nächsten Workshop gestalten? Denn wie wenige Praktika und Ausbildungsgänge sind barrierefrei, wie selten bewerben sich behinderte Menschen an Kunsthochschulen oder hatten die Möglichkeit, den erforderlichen Schulabschluss dafür zu erreichen. Das merke ich auch, wenn ich auf der Bühne arbeite und wir Nachgespräche führen, dass behinderte Menschen aus dem Publikum ganz gezielt mich adressieren: „Wie hast du das geschafft?“
STEFANIE Die Rolle von Vorbildern und die Frage, wer kann sich identifizieren, das macht sicher viel aus. Sophia, du arbeitest seit November künstlerisch mit den Schüler*innen und gibst Klassen-Workshops. Wie hast du das Projekt vorbereitet, was war für dich wichtig?

SOPHIA Wichtige Bausteine in der Vorbereitung waren die Schulbegehung und der Auftakt-Workshop mit dem Kollegium. Da ging es um Theaterspielen und Spielanleitungen, aber auch um Sensibilisierung zu Behinderung, Ableismus und Privilegien. Im Schulkontext wird z.B. vom „Förderschwerpunkt Sehen“ oder „Förderschwerpunkt Hören“ gesprochen. Die Frage sollte aber eher sein: Wie ist deine Lebensrealität und wie können wir dich dementsprechend fördern? Behinderung entsteht, wenn die Umgebung nicht funktioniert – Menschen werden behindert. Gerade in einer inklusiven Schule finde ich wichtig, mit welchem Ansatz die Lehrenden unterrichten. Für die Arbeit mit den Klassen habe ich z.B. die Barrierefreiheitsbedarfe der Jugendlichen erfragt. Ich möchte keine Diagnosen wissen, das ist defizit-orientiert und medizinisch fokussiert, das interessiert mich nicht und geht mich nichts an. Aber worauf kann ich achten, um einen guten Workshop vorzubereiten, der wirklich für die ganze Klasse funktioniert?
PAURI Viele Lehrer*innen haben uns direkt nach dem Auftaktworkshop zurückgemeldet, dass für sie Türen im Kopf aufgegangen sind und Sophia ihnen viele neue Denkanstöße geben konnte. Wichtig in der Vorbereitung war für uns als Theater auch, mit der Schule gemeinsam einen Rahmen zu schaffen, in dem Sophia künstlerisch gut und möglichst barrierefrei arbeiten kann.

SOPHIA Ja, normalerweise muss ich mir selbst die Strukturen bauen und dafür enorm viel kommunizieren. Dass das jetzt die Parkaue für mich übernommen hat, war eine neue Erfahrung für mich. Das Team der Künstlerischen Vermittlung hat u.a. geklärt, wie wichtig es ist, dass ich immer im gleichen Raum arbeite. Denn diesen Weg habe ich geübt – und nur, wenn ich mich wirklich auskenne, kann ich selbstbestimmt arbeiten.

STEFANIE Was bedeutet inklusive Theaterarbeit für euch, ist Inklusion für euch ein relevanter Begriff?
SOPHIA Wenn wir von Inklusion sprechen, bin ich oft erstmal vorsichtig, denn Inklusion wird meist wie eine Checkbox verstanden: Okay, wir haben eine behinderte Person in der Klasse, also sind wir inklusiv und Punkt. Aber das ist nicht Inklusion. Inklusion bedeutet, dass wir die Bedingungen anpassen an ein Gruppenbedürfnis. Sobald ich in diesem Raum bin, ist das Gruppenbedürfnis, dass ein geschriebener Text vorgelesen wird. Das als Gruppenregel zu setzen, weil wir uns gemeinsam dafür entschieden haben und nicht als Ausnahme für mich. Wenn einfach klar ist: alles, was geschrieben ist, wird vorgelesen. Oder: alles, was gesprochen wird, übersetzen wir in Gebärdensprache. Für mich ist Inklusion, wenn wir es schaffen, Bedürfnisse zu normalisieren. Und geduldig miteinander sind und uns nicht ausfragen: Was ist mit deinen Augen passiert oder woher kommst du oder warum benutzt du kein Pronomen? – Diese ganzen Dinge, die Menschen ins Aus stellen und sagen: Wir sind die Norm, und du gehörst nicht dazu. Das ist nicht Inklusion.
PAURI Ich finde es sinnvoller, über Barrierefreiheit nachzudenken, weil es dabei mehr ums Aktiv-Werden und Handeln geht. Beim konkreten Abbau von Barrieren können wir uns nicht allein auf den Weg machen. In der Parkaue beispielsweise brauchen wir unbedingt den Austausch und die Prozessbegleitung von behinderten Menschen, um unsere Räume und Angebote für alle zugänglich zu machen.

STEFANIE Ein Barrierefreiheitsangebot für blindes und sehbehindertes Publikum sind Vorstellungen mit Audiodeskription (abgekürzt AD), in denen, meist über Kopfhörer, live beschrieben wird, was auf der Bühne passiert. In Berlin gibt es dazu ein Projekt, den Berliner Spielplan Audiodeskription, mit dem auch die Parkaue kooperiert. Pauri, du begleitest die Tastführung für die AD-Vorstellungen von „Funken“. Was war dir in der Konzeption dafür wichtig?
PAURI Dass die Teilnehmer*innen genug Zeit haben, um den Raum, die Kostüme und die Requisiten der Inszenierung über Berührungen und Beschreibungen kennenzulernen. Wir gehen zuerst die Bühne gemeinsam ab, um die Tiefe und Länge genau erfahrbar zu machen. Die Kostüme und Requisiten können taktil erfahren werden. Gerade in „Funken“ spielen die Kostüme eine wichtige Rolle für die Herstellung der Figuren. Die Schauspieler*innen kommen am Ende der Führung auch dazu und beschreiben sich selbst.

STEFANIE Audiodeskription wird oft im Nachgang einer Inszenierung erstellt. Was wäre für euch der nächste Schritt, wie können wir AD auch als Kunst denken?

SOPHIA Wenn AD zu einer fertigen Inszenierung dazugefügt wird, ist die Dramaturgie nicht rund, weil Audiobeschreiber*innen die Lücken finden müssen, wo beschrieben werden kann. Die AD ist dann ein reiner Service, aber künstlerisch habe ich nicht so einen interessanten Abend, wie wenn eine Produktion auch ästhetisch für mich mitgedacht worden wäre. Wenn wir Kunst schaffen wollen, die für verschiedene Menschen funktioniert und inklusiv ist, ist es super wichtig, Barrierefreiheit von Anfang an mitzudenken.
PAURI Ich habe letztens das Tanzstück „Soiled“ von Michael Turinsky gesehen, in dem Sophia performt. Da war die Audiodeskription für alle hörenden Menschen ein essenzieller Teil der Aufführung und hat rhythmisch die Choreografie auf der Bühne begleitet. Die Beschreiberin saß gut beleuchtet im Publikum, war quasi neben den drei Performer*innen auf der Bühne die vierte Mitspielerin. Was hatte das für eine große Qualität und wieviel reicher wurde mein Abend dadurch! Und genau das – Barrierefreiheit ästhetisch denken – wollen wir als Parkaue langfristig auch in der Spielplanung berücksichtigen.
SOPHIA Das hat für mich mit einer Haltung zu tun. Wir machen Kunst–und die Frage ist: Wie machen wir den Theaterabend spannend für alle? Wie können wir niedrigschwellig Partizipation ermöglichen und das kreativ denken, wie lösen sich Theater von einem starren Verständnis von Audiodeskription? Nehmen wir an, ein Stück funktioniert stark über Sprache und bietet dem Publikum sowieso ein spannendes Hörerlebnis–dann braucht das vielleicht keine AD, sondern als Rahmung nur eine Tastführung. Oder wir bitten die Moderation bei Veranstaltungen: Beschreib dich selbst und die Bühne. Oder ist es ein kleiner Drache in der Ecke der Bühne, der erzählt. Es gibt nicht die klare Checkliste für Audiodeskription, wenn wir sie als Kunstform denken.

STEFANIE Und Barrierefreiheit fürs blinde Publikum geht natürlich über die Audiodeskription hinaus. Wir wissen, dass viele blinde Menschen nicht ins Theater gehen, weil sie sich an dem Ort nicht auskennen, keine Begleitperson gefunden haben.

SOPHIA Und das Theater keine Barrierefreiheit geschaffen hat. Was Institutionen tun können, ist z.B. ein Pick-Up-And-Drop-Off-Service an der nächsten U-Bahn-Station, ein Leitsystem und geschultes Servicepersonal, das weiß, wie man einer blinden Person assistiert. Tickets müssen barrierefrei online gekauft werden können.

STEFANIE Ja, da haben die Kulturhäuser und auch wir als Parkaue noch einiges zu tun, denn diese Rahmenbedingungen sind total wichtig. Damit sich Audiodeskription nachhaltig etablieren kann, braucht es auch eine Regelmäßigkeit, eine Zuverlässigkeit des Angebots. Onlineticketing via Smartphone ist z.B. für Jugendliche und junge Erwachsene klar ein Thema. Habt ihr den Eindruck, dass jüngere Menschen Barrierefreiheit selbstbewusster einfordern?
SOPHIA Wir alle wachsen auf und leben in einer ableistischen Gesellschaft. Behinderung oder behindertes Leben wird generell abgewertet, in der Medizin, in allen Lebensbereichen, im kapitalistischen Arbeitsmarkt usw. Und wir alle tragen einen internalisierten Ableismus in uns, wollen kein Hörgerät nutzen, selbst wenn wir es bräuchten; sträuben uns gegen einen Gehstock, selbst wenn das Gehen damit einfacher wäre. Und ich erlebe auch, dass viele Jugendliche ihre Hilfsmittel eben nicht nutzen, um nicht aus der Norm herauszufallen, obwohl diese helfen würden, z.B. aktiv am Unterricht teilnehmen zu können. Ich habe das Gefühl, der Diskurs um Rassismus ist einige Jahre weiter als das Sprechen über Ableismus. Selbst der Begriff ist vielen unbekannt. Wenn ich in einer Tanzproduktion darauf hinweise, dass etwas enorm ableistisch ist, gibt es überraschte Reaktionen, wo hingegen Blackfacing endlich seine Salonfähigkeit verloren hat. Durch das Fehlen von Vorbildern und die Existenz ableistischer Strukturen, glaube ich, dauert es noch, bis eine Forderung aus der Community auch von jüngeren Menschen kommt.
PAURI Ich finde es gerade deswegen so wichtig, dass wir immer wieder Räume herstellen, in denen über solche Themen gesprochen werden kann und in denen behinderte Kinder nicht die einzigen Menschen mit Behinderung im Raum sind, sondern in der Gruppe aufeinander treffen, sich gegenseitig stärken und gemeinsam Theater spielen. Ab Januar bieten wir deshalb einen Spielclub für behinderte und nichtbehinderte Kinder zwischen 8 und 12 Jahren an. Gemeinsam mit der Theaterpädagogin Miriam Cochanski und mir entwickeln die jungen Teilnehmer*innen dort ein eigenes Theaterstück, das im Juni auf der Bühne der Parkaue präsentiert wird.

Fotos: David Baltzer, Pia Henkel