Wenn das Klassenzimmer zur Bühne wird

Interview mit Matin Soofipour Omam, Trang Trần und Kristina Stang aus dem Magazin „Theater und Schule ­2“
Ein Gespräch über Theater in Schulen mit Matin Soofipour Omam, Trang Trần und Kristina Stang. Gemeinsam mit Stefanie Eue aus der Kommunikation sprachen die drei Dramaturginnen und Vermittlerinnen über Klassenzimmerstücke, Outreach-Projekte auf dem Schulhof und die Kreativität von Schüler*innen.
STEFANIE Bevor wir über einzelne Inszenierungen und Projekte sprechen, möchte ich mit einer offenen Frage starten: Welche Chancen liegen darin, mit Theater in Schulen zu gehen?

TRANG Für die Künstlerische Vermittlung liegt das Potenzial darin, durch partizipative Projekte Beziehungen aufzubauen und mit Schüler*innen nachhaltig in einen Austausch zu treten. Mit der Arbeit in Schulen können wir das Theater als Raum und Institution öffnen: Die Parkaue ist nicht nur das Theater in Lichtenberg, sondern die Parkaue kann auch woanders in der Stadt sein. Besonders wenn junge Menschen bereits ein bestimmtes Bild vom Theater als Institution im Kopf haben und das mit gemischten Gefühlen verbunden ist, ist es wichtig, Kunst als Teil des Alltags erfahrbar zu machen.

MATIN Wie sich Schulalltag und Kunst ineinander verwickeln lassen, sehen wir z.B. gut in den „Drei-Tage-Performances“, über die wir im letzten Magazin schon gesprochen haben und die ihre Geschichten über drei Tage hinweg in den unterschiedlichsten Räumen der Schulen entfalten – also den üblichen Rahmen von Ort und Zeit sprengen. Für die Kinder ist das ein Happening, sie gestalten mit und interagieren mit den Spieler*innen. Hier wagen wir gemeinsam mit den Schulen ein Experiment, auf das sich alle einlassen und das auch die Schulen sehr engagiert mittragen.

KRISTINA Ich finde es wichtig, mit Theater in Schulen zu gehen, denn Schulen sind Lebensräume. Das Leben von Kindern und Jugendlichen findet zu einem großen Teil in Klassenräumen statt. Da brauchen Künstler*innen sensible Antennen: Was ist hier im Raum, wie ist die Stimmung? Das ist wie Gast sein in einem Haus, wo man die Regeln erkunden muss – während man aber schon anfängt mit dem Workshop oder der Inszenierung. Es ist ein Abenteuer, in das man sich hineinstürzt.

STEFANIE In Grundschulen zeigen wir seit November „Wutschweiger“, die Geschichte zweier Kinder, deren Eltern die Klassenfahrt nicht bezahlen können. Kristina, du hast die Proben begleitet und bist bei jeder Vorstellung dabei. Weshalb eignet sich „Wutschweiger“ so gut als Klassenzimmerstück?
KRISTINA Weil die Themen relevant sind, auch in vielen Klassenräumen. „Wutschweiger“ erzählt von wachsender Armut, von Privilegien und sozialer Benachteiligung–aber nicht von außen, sondern aus der Perspektive der beiden Kinder. Es ist auch die Geschichte einer beginnenden Freundschaft, von Zusammenhalt und Solidarität. Die Inszenierung hat eine kleine Form, die Geschichte und die Bilder entstehen aus der Sprache heraus. So sind wir total beweglich und können in jedem Klassenraum spielen, egal wie z.B. die Tische stehen.
STEFANIE Wir gehen nicht nur ins Klassenzimmer, sondern mit einer mobilen Bühne auch auf den Schulhof. Das Projekt ist partizipativ gedacht und mit Schuljahresbeginn gestartet. Was waren die Grundgedanken?

TRANG Wir sehen die mobile Bühne als ein Tool, um direkt in Schulen mit jungen Menschen Kunst zu produzieren und etwas zu gestalten. Dabei ist es uns auch im Sinne eines Outreach-Ansatzes wichtig, verstärkt mit Schüler*innen zu arbeiten, die nicht die klassischen Theatergänger*innen sind, die vielleicht in ihrem Alltag Erfahrungen von Diskriminierung gemacht haben. Da sendet die mobile Bühne das Signal: Wir kommen zu euch, wir geben euch eine Plattform für eure eigenen Formen des Selbstausdrucks. Und im schulischen Umfeld ist das besonders, denn da sehen auch Mitschüler*innen und Lehrer*innen im besten Fall eine Hingabe zum Kreativen oder sogar versteckte Talente, die bislang so noch nicht gesehen wurden.
STEFANIE Das dritte Projekt, über das wir ausführlicher sprechen, ist die interaktive Performance „Stranger Life Fantasies“, die im Klassenzimmer stattfindet, aber kein klassisches Klassenzimmerstück ist.

MATIN Genau, das Projekt macht den Klassenraum sogar zur Hauptfigur. Für die Arbeit haben wir das Künstler*innen-Duo PINSKER+BERNHARDT eingeladen, das an der Schnittstelle von Performance und Choreografie arbeitet. Die beiden gehen von einer Frage aus, die junge Menschen sehr oft gestellt bekommen und die manchmal nervig ist: Was willst du werden? Hier spielen PINSKER+BERNHARDT mit Perspektiven. In ihrer Performance ist es das Klassenzimmer, das sich mit dieser Frage an eine Berufsberatung wendet. Die theatrale Situation ist dann, dass 2–3 Berater*innen in die Klasse kommen und das mit den Kids verhandeln: Was könnte euer Klassenzimmer werden, hat es wirklich Chancen, sich umzuorientieren?

STEFANIE Diese Umkehrung hat Witz. Gleichzeitig stellt die Performance die Klassenfrage im Klassenzimmer, so hast du es bei der Spielzeitpräsentation gefasst.

MATIN Ja, denn die Frage „Was möchtest du werden?“ hängt eng mit gesellschaftspolitischen und sozialen Aspekten, wie Klassenzugehörigkeit, Genderpositionierungen, Privilegien und Zugängen zusammen. Die eigentliche Frage ist also: Wer gestaltet Zukunft und wie viel Gestaltungsraum hat jede*r Einzelne? Denn Zukunftswünsche können durch soziale Ungleichheiten eines Systems zu unerreichbaren Fantasien werden. Gleichzeitig steckt in der Frage nach dem „Was-Werden“ auch das „Was-Werden-Wollen-Müssen“. Was meint Leistungsdruck heute? Die Welt verändert sich so schnell, die Entwicklungen sind rasant. Wird es Berufe, so wie wir sie kennen, in zehn Jahren noch geben? Wie können wir eine Vorstellung von Berufen entwickeln, die es heute noch gar nicht gibt?
TRANG Und hier ist vielleicht auch die Wechselwirkung interessant. Es wird oft von jüngeren Generationen wie Generation Z gesprochen, die sagen: Arbeit ist nicht alles. Was möchte ich werden, was jenseits von Arbeit liegt? Wenn wir die Frage so umdenken, was können wir dann als erwachsene Menschen von jungen Menschen lernen?

STEFANIE Gibt es diese Wechselwirkung auch bei „Wutschweiger“? Allein räumlich stellt die Inszenierung eine besondere Nähe her, verändert sich dadurch der Austausch mit den Klassen?
KRISTINA Es ist auf jeden Fall für die Spieler*innen und mich als Begleitung ein anderes Sich-Einlassen. Wir erleben jede Reaktion der Kinder und können im Spiel viel individueller auf sie eingehen. Und daran erinnern sich alle noch in der Nachbereitung, die auch nicht nur frontal, sondern spielerisch ist. Wir entwickeln Situationen weiter: Wo hätte man eine andere Abbiegung nehmen können? Warum war das unfair? Die Klasse 3a von der Grundschule an der Marie, wo wir die Generalprobe gezeigt haben, hatte z.B. spontan beschlossen, eine Fortsetzung zu schreiben. Da werden die Kinder zu Mitautor*innen und verhandeln die Situation des Stücks – aber sie tun das als eine Gruppe, die es vorher schon gab und die es danach geben wird. Das heißt, da ist die Möglichkeit, über die Kunst Erfahrung im sozialen Raum der Klasse etwas aufzubrechen oder anzustoßen, ohne dass das ein pädagogisches Ziel wäre oder man mit dieser Absicht in die Klasse hineingeht.
STEFANIE Der Gestaltungsraum beim Projekt mobile Bühne an der Carl-von-Ossietzky-Schule ist für die beteiligte Klasse nochmal viel größer. Was ist das Besondere?

TRANG Wir arbeiten mit der Musikerin Biljana Pais und dem Rapper Ilhan44 zusammen, die in einer 7. Klasse seit Oktober regelmäßig Workshops geben. Ilhan war z.B. dort selbst Schüler und ist auch in dem Kiez sozialisiert, die Lehrerin ist engagiert und kennt die Bedarfe der Klasse–das sind Faktoren, die das Projekt natürlich begünstigen. Zum Abschluss gibt es eine Show auf der mobilen Bühne. Die Mobilität der Bühne ist für uns zentral, denn Räume sind auch in Schulen knappe Ressourcen. Aber jede Schule hat einen Schulhof. Und da lässt sich eine Bühne auch aufbauen, ohne radikal den Betriebsablauf in der Schule zu unterbrechen. Wir versuchen mit der mobilen Bühne, die tradierten Hierarchien und Beziehungsmuster für eine Weile zu unterbrechen. Die Schüler*innen werden zu Expert*innen, die Lehrer*innen schauen zu und erleben ihre Klasse hoffentlich auf eine andere Art und Weise.

STEFANIE Sollte Theater in der Schule, vor allem wenn wir über Öffnungsprozesse nachdenken, ein fester Baustein in der Spielplanung sein? Macht Theater in Schulen vielleicht auch gerade Lust auf einen Gegenbesuch?

KRISTINA Natürlich möchten wir, dass Kinder und Jugendliche zu uns kommen, um den besonderen Ort Theater kennenzulernen. Das finde ich auch richtig, aber eben nicht ausschließlich. Weil ich das Gefühl habe, dass in vielen gesellschaftlichen Sektoren die Institutionen diffundieren müssen. Das ist ein größerer Trend und gilt nicht nur im Theater. Solange wir in den Institutionen bleiben, haben wir die Illusion zu wissen, wer unser Publikum ist. Wenn wir in Schulen gehen, erleben wir auch nicht die ganze Realität, weil wir natürlich in einem geformten Raum unterwegs sind. Aber der Horizont wird weiter.
MATIN Beim Saisonauftakt für Lehrer*innen „Nah dran“ haben wir genau darüber gesprochen: Kommt das Theater in die Schule oder kommt die Schule ins Theater? Wir sprachen über Wege und die organisatorische Arbeit von Lehrer*innen, über inklusive Klassen und Teilhabe als kultur- und bildungspolitischen Auftrag. Wir wünschen uns beides: dass Kinder die Erfahrung mit Kunst in der Schule machen, aber auch zu uns ins Theater kommen, hier die Atmosphäre und das gemeinsame Theatererleben mit vielen anderen Zuschauer*innen kennenlernen. Aber wir wissen, dass Ausflüge immer auch eine Frage von Ressourcen sind.
STEFANIE Im ersten Magazin stand ein Interview unter der Überschrift „Wer lernt hier was und von wem?“ Stellt sich diese Frage beim Thema Theater in Schulen noch einmal anders?

MATIN Ich möchte nicht vom „lernen“, sondern von „erfahren“ sprechen. Wir lehren nicht, sondern wir erzählen und machen etwas erfahrbar. Wir geben Geschichten weiter. „Stranger Life Fantasies“ beantwortet nicht die Frage „Was willst du werden?“, aber öffnet sie. In der Nachbereitung von „Wutschweiger“ geht es darum, wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn die Figuren anders gehandelt hätten. Das ist das Aufregende am Theater: kein „Welt erklären“ oder „etwas beibringen“, sondern gemeinsam nachdenken und dieses Nachdenken ins Spiel zu übersetzen.

KRISTINA Das sehe ich auch so, aber ich glaube, es ist nie ein freier Raum des gemeinsamen Nachdenkens. Auch Schule ist ein Raum, der von sozialen Rollen bespielt wird. Auf der einen Seite gibt es die Schauspieler*innen und mich als Vermittlerin. Auf der anderen Seite gibt es Schüler*innen, Lehrer*innen, Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen. Und es gibt so viele Mikroregeln, die die Begegnung vor Ort mitbestimmen.
TRANG Das zu reflektieren ist wichtig und hat auch stark das Konzept für die mobile Bühne mitbeeinflusst. Wir arbeiten hier eng mit Künstler*innen zusammen, die sich zum Beispiel als BIPoC positionieren oder die eben mit unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen und einer Antidiskriminierungskompetenz in die Klasse gehen. Wir glauben, dass diese Begegnung einen Unterschied macht. Und dass eine andere Form des Lernens im Sinne von verkörpertem Lernen möglich ist, weil die Künstler*innen Identifikationsmöglichkeiten bieten oder eine andere Form von Empathie haben. Und weil sie den Kontext der Lebenswelten kennen.
Wir verfolgen dieses Projekt langfristig, wollen dabei selbst dazulernen und die Wechselwirkungen zwischen Theater und Schüler*innen verstehen. Und zugleich bekommen wir auch viel zurück, haben Spaß und schöpfen selbst Energie aus dem Kontakt zu jungen Menschen. Wir wollen, dass junge Menschen zu uns kommen, wir wollen zu ihnen gehen und wir wollen sie wertschätzen, deswegen sind wir ein Kinder- und Jugendtheater.

Fotos: David Baltzer