Wer lernt hier was von wem?

Interview mit Amrit Walia und Angelo Camufingo aus dem Magazin „Theater und Schule ­1“
Die Abteilung Künstlerische Vermittlung und Partizipation entwickelt gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen Projekte. In Workshops und Werkstätten, bei Open-Stage- Abenden und auf der mobilen Bühne können alle aktiv mitmachen. Dabei legt das Team den Schwerpunkt auf eine diskriminierungssensible Vermittlungsarbeit. Die Autorin Luna Ali sprach mit der Teamleiterin Amrit Walia und dem Antirassismus- und Bildungsreferenten Angelo Camufingo über Diversität und Barrieren, neue Vorbilder und Fantasie.
LUNA Mit den Vermittlungsformaten schafft ihr Räume für die Begegnung von jungen Menschen und Theater. Amrit, kannst du skizzieren, was euch dabei grundsätzlich umtreibt?

AMRIT Ein Großteil unseres Spielplans richtet sich an Schulklassen und darin liegt eine große Chance, denn so erreichen wir sehr viele Berliner Kinder und Jugendliche direkt. Dennoch beobachten wir, dass aus manchen Stadtteilen und Schulformen Klassen seltener kommen. Das soll sich ändern. Wir wollen, dass sich alle Kinder und Jugendliche bei uns wiederfinden. Damit das gelingen kann, spielen viele Faktoren eine Rolle, z. B. welche Geschichten werden von wem auf der Bühne erzählt? Wie können wir Barrieren schneller und konsequenter abbauen? Mit welchen Vorbildern bringen wir junge Menschen zusammen und welche ästhetischen Setzungen machen wir? Wie fühlt sich ein Theaterbesuch in der Parkaue eigentlich an? All das ist relevant.

LUNA Warum ist das insbesondere für die Vermittlungsarbeit relevant?

AMRIT Geschichten, die Kinder und Jugendliche im Theater erleben, sind wirkmächtig und prägen sie in ihrem Selbstverständnis und im Umgang mit anderen. Stereotype Darstellungen, z. B. von Geschlechterrollen, Familien- und Klassenverhältnissen, Liebesbeziehungen oder der Umgang mit nicht-normativen Körpern, beeinflussen ihre Wahrnehmung von Welt ja bereits im Kleinkindalter. Das macht Kindertheater zu einer wichtigen und verantwortungsvollen Aufgabe. Uns interessiert, wie kulturelle und politische Bildung mit künstlerischen Mitteln so umgesetzt werden kann, dass sie Kinder gleichermaßen ermächtigt und sensibilisiert. Unser Programm soll daher diversitätsbewusst sein, neue Perspektiven eröffnen und Lust auf Theater machen.

LUNA Die Parkaue arbeitet nicht nur mit Künstler*innen, sondern auch mit Fachexpert*innen zusammen. Angelo, du hast im Februar die Filmvorführung „Der zweite Anschlag“ begleitet. Was hast du in diesem Rahmen gemacht und was leistet dieser Film?
ANGELO Amrit hatte mich eingeladen, gemeinsam mit der Regisseurin Mala Reinhardt die Nachgespräche mit Schulklassen und dem Abendpublikum zu führen. „Der zweite Anschlag“ dokumentiert rassistische Gewalt von den 1980er Jahren bis in die Jahre des NSU-Terrors hinein und stellt dabei – und das ist das Besondere des Films – die Perspektive der Opfer und Betroffenen in den Mittelpunkt.

AMRIT Genau dieser Perspektivwechsel war uns wichtig. Die Dokumentation zeigt auch die politische Bildungs- und Aufklärungsarbeit, die migrantische Selbstorganisationen und Hinterbliebene seit Jahrzehnten leisten. Die Behörden haben in vielerlei Hinsicht völlig versagt, beziehungsweise sich mitschuldig gemacht.
ANGELO Dazu kommt, dass rassistische Gewalttaten in der Öffentlichkeit oft als isolierte Einzelfälle dargestellt werden. Den Anstrengungen der Aufarbeitung und Warnungen durch BIPoC vor Rechtsterrorismus und Rassismus werden medial kaum Aufmerksamkeit geschenkt, da setzt der Film an. Der Anschlag in Hanau ist da nur ein weiteres grausames Beispiel und hat vor allem vielen jungen BIPoC in diesem Land noch einmal vor Augen geführt, wie unsere Gesellschaft mir derartigen Taten umgeht. Außerhalb der Jahrestage wird über Anschläge wie Hanau gesamtgesellschaftlich nur wenig gesprochen. Es ist wichtig, durch Angebote wie die Filmvorführung mit Schulklassen, über rechte Gewalt immer wieder ins Gespräch zu kommen. Als Moderator kann ich dort mein Wissen aus der Antirassismus- und der Bildungsarbeit teilen, angerissene Gedanken fachlich vertiefen, für rassistische Einstellungen sensibilisieren, kurz: Perspektiven und Kontexte einbringen. Besonders wichtig ist in solchen Gesprächssituationen auch das Empowerment, also die Stärkung, Jugendlicher, die selbst von Rassismus und anderen Diskriminierungen betroffen sind.
LUNA Empowerment von jungen Menschen wird auch ein Thema beim Lehrer*innen-Fachtag sein, der fürs Frühjahr geplant ist. Worum wird es da genau gehen?

AMRIT In Gesprächen mit Lehrer*innen und Referendar*innen erlebe ich immer wieder, dass uns ähnliche Fragen umtreiben: Wie können wir diskriminierungssensibler agieren – im System Theater und im System Schule? Welches Wissen, welche Skills und Unterstützung braucht es? Beim ersten Fachtag geht es um Antirassismus. Expert*innen wie Angelo teilen ihr Wissen und geben praktische Tools an die Hand.

ANGELO Für die Arbeit mit jungen Menschen, egal ob im Unterricht oder im Theater, ist es wichtig, immer wieder zu überprüfen: Wer wird mitgedacht und wer nicht, was ist meine individuelle Perspektive und Positionierung, wie kann ich unterschiedliche Perspektiven in meine Arbeit einfließen lassen? Diskriminierungssensibles Arbeiten ist ein kontinuierlicher Lernprozess.

AMRIT Theater als außerschulischer Bildungsort bietet sich dafür gut an. Wir verstehen den Fachtag auch als Vernetzungsangebot: Wie können Schule und Theater diese Themen gemeinsam angehen?

LUNA Wir haben darüber gesprochen, wie wichtig es ist, Geschichten aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen. Eines der Projekte, die einen diversitätsorientierten Ansatz verfolgen, ist die Lesereihe in Kooperation mit Audream.
AMRIT Audream ist eine mobile antirassistische Bibliothek, die junge Schwarze Menschen in Berlin aufgebaut haben. Mit empowernden Büchern touren sie zu Stadtbibliotheken, Veranstaltungen und Schulen – und kommen nun auch zu uns. Mit der Lesereihe verfolgen wir einen Peer-to-Peer- Ansatz: Junge Menschen lesen für junge Menschen. Besonders für BIPoC und anders marginalisierte Kinder und Jugendliche ist es wichtig zu erleben, dass es Menschen gibt, die ähnliche Geschichten teilen wie sie.

LUNA Welche Möglichkeiten kann Theater Kindern und Jugendlichen noch bieten?
ANGELO Theater ist ein Spielraum, in dem sich Kinder und Jugendliche mit ihrer Lebenswirklichkeit auseinandersetzen können, sie befragen und buchstäblich in Bewegung bringen können. Im Theater können andere Welten und Handlungsweisen mit künstlerischen Mitteln entworfen und erprobt werden. Darin liegt eine große Kraft. Gerade für marginalisierte Kinder und Jugendliche, die in ihrem Alltag immer wieder Stereotypisierungen erleben, die auf der Straße bestimmte Blicke ernten oder anderen Mikroaggressionen ausgesetzt sind, ist es wichtig, Räume zu haben, die sich anders anfühlen. Räume, in denen sie sich verstanden und sicher genug fühlen, um sich kreativ auszuprobieren. Denn BIPoC Kinder wachsen teilweise als die größten Schauspieler*innen auf, indem sie konsequent in der absoluten Dualität ihrer eigenen Identität und der Dominanzgesellschaft leben. Was die Gesellschaft trennt, kann im Theater zusammengebracht werden.

AMRIT Wir wollen ein Ort sein, an dem junge Menschen sich ausprobieren können und erstmal herausfinden, worauf sie Lust haben: Musik machen oder als Spieler*in auf der Bühne stehen, Texte schreiben, Kostüme oder ein Bühnenbild entwerfen. Bei uns können sich Kinder und Jugendliche über gesellschaftspolitische Themen austauschen und im kreativen Schaffen Gesellschaft neu erfinden. Denn globale politische Bewegungen wie Black Lives Matter und Fridays for Future, alle von jungen Menschen initiiert, machen deutlich, dass Kinder und Jugendliche weltweit für radikalere Zukunftsvisionen kämpfen als die Erwachsenen. Und natürlich fragen wir uns, welche strukturellen Veränderungen müssen wir machen?

ANGELO Hier spielt auch das Bild von Theater mit hinein, das in Schulen und der Öffentlichkeit vermittelt wird. Gerade im deutschen Kontext – im „Land der Dichter und Denker“ – ist die Idee von Literatur und Kunst ziemlich abgehoben. Da stellt sich dann die Frage für junge Menschen: „Gehöre ich da hin oder gehöre ich da nicht hin?“ Und das ist eben nicht nur eine Frage von „Ist das interessant oder langweilig?“, sondern „Hat das was mit mir und meinem Leben zu tun, wird hier meine Realität verhandelt?“
LUNA Zum Abschluss möchte ich mit euch noch über die partizipative Produktion „Macht PAUSE“ sprechen. Das Projekt fragt danach, wie Jugendliche mit den Erwartungen umgehen, die für viele unweigerlich mit dem Schulabschluss und der Frage „Wie weiter?“ im Raum stehen.

AMRIT Genau, in dieser Zeit erleben junge Menschen oft einen großen gesellschaftlichen Druck. Direkt nach dem Abschluss sitzt ihnen das JobCenter und die Krankenversicherung im Nacken, zwingt sie in Jobs und Ausbildungen. Ein Gap Year können sich nicht alle leisten. Und wir fragen: Wo ist hier die Pause? Wo ist der Freiraum, sich auszuprobieren: Was liegt mir, wo will ich hin im Leben, welcher Beruf könnte mir Freude machen?
LUNA Für das Projekt arbeitet ihr partizipativ mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen zusammen.

AMRIT Ja, wir bringen die Teilnehmenden mit der Choreografin und Bildenden Künstlerin Magda Korsinsky und ihrem künstlerischen Team zusammen. Von November bis April treffen sie sich wöchentlich, tauschen und probieren sich aus. Am Ende steht ein selbst entwickeltes Stück, das sie Schulklassen präsentieren. Hier trifft junges Publikum auf junges Ensemble.

ANGELO Wenn es im Theater eine Sensibilität gibt für die unterschiedlichen Erfahrungen, die junge Menschen machen, und Diversitätssensibilität und Diskriminierungskritik als Aufgaben des Theaters verstanden werden, dann kann ein Raum entstehen, der junge Menschen dazu befähigt, sich auszuprobieren, spielerisch zu sein, ehrlich zu sein und die Gesellschaft zu hinterfragen. Das Theater kann ein Braver Space, ein mutiger Raum, sein, und das für alle Beteiligten.

Fotos: David Baltzer, Dennis Krischker