Zwei ungleiche Heldinnen

Interview mit Farnaz Arbabi und Athena Farrokhzad aus dem Magazin „Theater und Schule #5“
Regisseurin Farnaz Arbabi und Autorin Athena Farrokhzad stecken mitten in den Proben von „Antigones Vermächtnis“, eine Produktion, die die neue Spielzeit eröffnen wird. Das Auftragswerk ist eine Neuerzählung des antiken griechischen Mythos von Sophokles, das für die Parkaue entstanden ist. Im Gespräch mit Dramaturgin Leila Etheridge sprechen sie über die Idee, ein neues Stück zu schreiben und über ihren eigenen Zugriff auf den bekannten Stoff.
LEILA Farnaz, als wir vor einigen Monaten darüber sprachen, den Antigone-Mythos zu inszenieren, hattest du die Idee, eine Überschreibung des Originalstücks zu machen. Brauchen wir einen neuen, aktuelleren Blick auf den klassischen Text, um ihn einem jungen Publikum zugänglicher zu machen?

FARNAZ Ich habe mich in die Idee, die hinter der Antigone von Sophokles steht, verliebt und wollte sie schon seit 20 Jahren inszenieren. Aber jedes Mal, wenn ich anfange, das Stück zu lesen, merke ich, dass es in erster Linie ein Ideendrama ist, in dem es seitenweise philosophische und politische Diskussionen gibt, hauptsächlich zwischen Kreon und den anderen Figuren. Einige der Inszenierungen könnten genauso gut „Kreon" heißen, weil es so leicht ist, die Perspektive der jungen Kämpferin Antigone aus den Augen zu verlieren und stattdessen den Kampf des mächtigen Mannes in den Fokus zu setzen! Die Szenen zwischen den Schwestern sind aber für mich am interessantesten, und ich wollte, dass wir uns mehr auf sie konzentrieren. Die Konflikte im Originalstück zwischen den Generationen, zwischen den Geschlechtern, zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Gesetz und Moral sind alle relevant für die heutige Zeit, aber jede Inszenierung muss letztlich eine Entscheidung treffen, was sie hervorheben will.
„Wie weit sind wir bereit zu gehen, um das zu tun, von dem wir wissen, dass es richtig ist? “ Farnaz
LEILA In Athenas Stück habt ihr euch daher entschieden, einen neuen Weg zu gehen. Die Geschichte beginnt dort, wo der klassische Text endet: nach dem Tod von Antigone. Zur Hauptfigur wird nun Antigones kleine Schwester Ismene. Wie seid ihr auf diese Idee gekommen? Und wie viel „Antigone“ steckt dann noch in dem Stück?
ATHENA Ich habe mich schon immer für das „Danach“ interessiert, dafür, was passiert, nachdem eine sehr kanonisierte Geschichte, aus der wir moralische Schlüsse über unsere Gesellschaft ziehen, endet. Was können die Figuren des Dramas tun, wenn es keinen Stücktext mehr gibt, dem sie folgen können? Welche Art von Freiheit oder Kampf beginnt dann für sie? In „Antigones Vermächtnis“ ist Sophokles’ Drama zu Ende, Antigone hat sich dem Gesetz widersetzt, sie hat ihren Bruder heimlich begraben und ist gestorben. Doch für den König Kreon ist es nicht genug, dass sie mit ihrem Leben bezahlt hat. Er beschließt sie weiter zu bestrafen, indem er wiederum verbietet, Antigones Leichnam zu begraben – genauso wie er es bereits mit ihrem Bruder getan hat. Dies zwingt ihre Schwester Ismene, die als einzige der Geschwister übriggeblieben ist, Antigones Weg des Widerstands fortzusetzen.

LEILA Ihr habt gesagt, dass Machtverhältnisse im Stück eine große Rolle spielen. In „Antigones Vermächtnis“ geht es nicht nur um die kontrollierende Macht des Herrschers Kreon, sondern auch um das Machtverhältnis zwischen den Schwestern. Könnt ihr uns ein bisschen mehr über ihre Beziehung zueinander erzählen?
FARNAZ Die ältere Schwester Antigone ist mutig und entschlossen, willensstark und freimütig. Die jüngere Schwester Ismene, deren Name „die Vernünftige“ bedeutet, ist vorsichtig, pflichtbewusst und gehorsam. In gewisser Weise sind sie Symbole für unterschiedliche Strategien des Überlebens in einer männerdominierten Welt, die (noch) nicht die ihre ist. Die Schwestern haben ihre Eltern und Brüder verloren, und dann verliert Ismene auch noch ihre Schwester Antigone. Ismene ist natürlich sehr traurig und verängstigt, aber sie ist auch wütend auf Antigone, weil sie sie vollkommen allein gelassen hat.
ATHENA Es ist eine Beziehung, die aus Liebe, aber auch aus Feindseligkeit besteht. Ich denke, die Spannungen zwischen den Schwestern haben viel damit zu tun, wie unterschiedlich sie als Mädchen mit der patriarchalen Macht umgehen, mit dem König, aber auch mit ihren Brüdern.

LEILA Neben den beiden Frauenfiguren Antigone und Ismene gibt es in dem neuen Stück auch einen Frauenchor. Was ist der Unterschied zwischen diesem Chor und dem Chor in einem klassischen griechischen Drama?

ATHENA Der Chor in „Antigones Vermächtis“ besteht aus ehemaligen Kämpferinnen, aus Frauen, die einst ähnliche Wege wie Antigone gegangen sind und die nun die Schwestern durch ihr Schicksal begleiten, mit Liebe, aber auch mit Warnungen.
FARNAZ Unser Drei-Frauen-Chor am Theater an der Parkaue steht außerhalb von Zeit und Raum, er ist allwissend und verzeihend, er verspottet die Figuren auf liebevolle Weise, fast wie die Oma aus deinen Träumen. Gleichzeitig sind sie die griechische Göttin Athene, müde nach ihrem Kampf mit Zeus. Der Chor ist auch eine lustige Truppe, die Witze macht und die anderen Figuren kommentiert.

LEILA Athena, du schreibst in erste Linie Poesie, hast aber auch schon für die Bühne geschrieben, hier gab es auch bereits eine Zusammenarbeit mit Farnaz. Die Sprache, die du jetzt in dem Stück verwendest, ist eine Bühnensprache, die für ein jüngeres Publikum leichter verständlich zu sein scheint, ohne eine Alltagssprache zu benutzen. Warum hast du dich dafür entschieden, in dem Stück trotzdem Sophokles-Textstellen zu zitieren?

ATHENA Für mich ist eine poetische Sprache, die für viele zugänglich ist, sehr wichtig. Ich arbeite viel mit Wiederholungen und Umstrukturierung in der Sprache und mit dem Humor und der Zärtlichkeit, die daraus entstehen können. Ich denke, die griechischen Tragödien und insbesondere Sophokles’ „Antigone“ gehören zu den schönsten Texten der Literaturgeschichte. Mir gefällt besonders, wie sie die Sprache als Mittel der Handlung einsetzen. Es findet nicht viel auf der Bühne statt, sondern das Stück verarbeitet die Ereignisse der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch die Erzählungen des Chors und der Protagonist*innen. Daher wollte ich Teile daraus weiterverwenden.

LEILA Das Stück „Antigones Vermächtnis“ stellt viele Bezüge zur aktuellen politischen Situation in der Welt her, ohne konkret zu werden. Glaubst du, dass die Themen, die es aufgreift, auch für ein junges Berliner Publikum relevant sind?
FARNAZ Wir haben uns von den Freiheitsbewegungen auf der ganzen Welt inspirieren lassen, wo junge Frauen und Mädchen an vorderster Front stehen. Es gibt viele junge Berliner*innen, die einen direkten Bezug zu diesen Kämpfen haben, aber selbst, wenn sie oder ihre Familie das nicht erlebt haben, ist die Geschichte von Widerstand, Mut und Tapferkeit etwas, mit dem wir uns alle in unserem Leben auseinandersetzen. Wagen wir es, uns gegen die herrschenden Mächte aufzulehnen, auch wenn dies mit einem Risiko verbunden ist? Wie weit sind wir bereit zu gehen, um das zu tun, von dem wir wissen, dass es richtig ist?
ATHENA Eines der wichtigsten Themen von Antigone ist die Frage, wie Macht die Lebenden kontrolliert, indem sie die Körper der Toten kontrolliert und umgekehrt. Das ist eine sehr konkrete Erfahrung für unterdrückte Menschen zum Beispiel in Palästina, Kurdistan und dem Iran heute, und es war uns wichtig, in unserer Arbeit darauf Bezug zu nehmen. Viele junge Menschen in Berlin haben Familie in diesen Orten. Die Widerstandsbewegungen, die weltweit aktiv sind, sind also auch in der deutschen Gesellschaft sehr präsent, die natürlich ihre eigenen politischen Kämpfe hat, die für Bürger*innen jeden Alters relevant sind. Ich denke, dass Widerstand ein besonders relevantes Thema für junge Menschen ist, die sowohl gegen komplizierte und unzugängliche Machtstrukturen kämpfen müssen, die den ganzen Planeten zerstören, als auch gegen den Machtmissbrauch der Erwachsenenwelt, der sie im Alltag umgibt.
LEILA Farnaz, du leitest das Unga Klara Theater in Stockholm, ein wegweisendes Kinder- und Jugendtheater in Europa. Wie arbeitet ihr in Schweden mit Schulen zusammen? Bei uns am Theater an der Parkaue haben wir im Probenprozess immer Schulklassen zu Besuch, die uns Feedback geben, ihre Meinung teilen und Fragen stellen können. Werden bei euch auch Schulklassen in den Probenprozess einbezogen?
FARNAZ Bei Unga Klara arbeiten wir sehr eng mit Schulen aus verschiedenen Bezirken zusammen. In der Regel lernen wir schon sehr früh ein junges Publikum kennen, oft schon in der ersten oder zweiten Probenwoche. Manchmal bevor wir überhaupt mit den Proben beginnen, oder sogar bevor die Fassung geschrieben ist. Es geht darum, gemeinsam über die Themen des Stücks zu sprechen, sie auszuprobieren, die Perspektive unseres Publikums kennenzulernen und zu verstehen, inwieweit die Themen des Stücks mit ihnen und ihrem Leben in Verbindung stehen. Der Graben zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten ist größer geworden, und das führt zu Diskrepanzen im Leben unseres Publikums, daher ist es sinnvoll, junge Menschen aus verschiedenen Bezirken zu treffen. Manchmal arbeiten wir mit einer wiederkehrenden Gruppe, aber meistens treffen wir ganz verschiedene Schulen.
LEILA Welchen Gedanken oder Eindruck würdet ihr den Zuschauer*innen nach der Vorstellung gerne mit auf den Weg geben?

ATHENA Gedanken über die Komplexität der Schwesternschaft, Gedanken über die Möglichkeiten des Widerstands, Gedanken darüber, welche Emotionen Theater hervorrufen kann, Gedanken über Leben und Tod!
FARNAZ Diese Frage ist schwer für mich zu beantworten. Das Publikum wird für sich selbst denken, jede*r hat seine*ihre eigene Interpretation, basierend auf dem, wer man ist und persönlichen Erfahrungen. Eine großartige Sache an der Kunst ist, dass es kein richtig oder falsch gibt, sodass jeder Eindruck der Richtige ist.

Fotos: Paula Reissig